MIR: Können Erfahrungen aus einer Branche auch in anderen Branchen nützlich sein?
Yasmeen Ahmad: Absolut. In jeder Industrie gibt es Spezialisierungen in Kernbereichen, von denen andere profitieren können. Telekommunikationsunternehmen sind beispielsweise besonders fit in Bereichen der Netzwerkanalyse und können anhand der Gesprächslisten Haushalte identifizieren und Verbindungen zu Familie und Freunden offenlegen. Händler wiederum haben Techniken zur Warenkorbanalyse entwickelt, um interessante Zusammenhänge zwischen Produkten bei variierenden Preisen und Promotionen zu erkennen. Produzierende Unternehmen sind bei der Optimierung von Lieferketten besonders gut. Jede Branche hat da ihre Spezialgebiete, die jahrelang als besondere Kompetenz weiterentwickelt wurden. Unternehmen aus anderen Branchen können von den gemachten Erfahrungen profitieren und deshalb schneller und auf einem höheren Niveau eigene Analysefähigkeiten aufbauen.
MIR: Wir haben nun viel über die wissenschaftliche, datengetriebene Seite des Connected-Consumer-Marketings gesprochen. Müssen denn in Zukunft alle Marketingmanager Datenanalysten sein?
Yasmeen Ahmad: Die reine Analyse von Daten bringt zwar Insights, aber schafft noch keine Werte: Erst wenn Insights zu konkreten Handlungen führen, entsteht Nutzen. Statistiker und Analytiker helfen Marketingmanagern beim Aufspüren neuer Erkenntnisse. Damit diese Insights auch in Aktionen übersetzt werden, müssen auch die Marketingteams ein gewisses Maß an Datenverständnis entwickeln. Datenkenntnisse sind deshalb quer durch das ganze Unternehmen wichtig, da andernfalls die Analysen rasch in den Schubladen verschwinden.
MIR: Und wie sehen Sie die andere Seite des Marketings, die mehr Kunst als Wissenschaft ist? Was für eine Rolle spielen in dieser Welt die Kreativen?
Yasmeen Ahmad: Traditionelles Marketing beschäftigt sich oft mit der Konzeption von idealtypischen Kunden und den Charakteristiken von Zielsegmenten. Diese werden eher intuitiv als wissenschaftlich erforscht und gebildet und liefern die Grundlage für breite, segmentspezifische Marketingkampagnen. Ein wissenschaftlicherer Zugang wird dann wichtig, wenn die breiten Kampagnen durch eine individualisierte Kundenansprache ersetzt werden. Die heute verfügbaren wissenschaftlichen Methoden können Verhaltensmuster entdecken, unbewusste Bedürfnisse erkennen, präferierte Vertriebskanäle identifizieren und dem Marketing zeigen, wie man mit einzelnen Kunden zum richtigen Zeitpunkt in Kontakt tritt. Trotzdem ist es dann die kreative Ästhetik, ein einprägsames Design oder eine durchdachte Formulierung, die die Verbindung zum Kunden herstellt. Die Wissenschaft kann aber helfen, Budgets zu optimieren, Kundenloyalität zu stärken oder die Wertschöpfung zu steigern.
MIR: Wie erreicht man die ideale Mischung aus analysebasierter, datengesteuerter Entscheidungsfindung und kunstvollem Branding und kreativer Kommunikation?
Yasmeen Ahmad: In Kampagnen und kreativen Botschaften können wir künstlerisch Inhalte vermitteln und laufend verbessern. Die Wissenschaft kann aber auch hier helfen. Klassische A/B-Tests werden immer leichter realisierbar. Analysen können uns helfen, jeden Aspekt einer Webseite wie Farben, Formen, Gestaltung, Schriftarten und mehr zu analysieren, um die beste Gesamtlösung zu kreieren und mehr Interaktionen und bessere Response-Raten zu erreichen. Marketingmanager verstehen immer besser, dass ihre Aktivitäten von beiden Seiten profitieren können. Kreativität führt zu perfekten Geschichten und Bildern, aber es sind die Daten, die den Bedarf prognostizieren und Verkaufszahlen steigern können und letztendlich mehr Wert schaffen.
MIR: Bereits heute sind komplexe Machine-Learning-Anwendungen in Marketing- und Kundenanalysen im Einsatz. Was kommt als Nächstes? Mehr künstliche Intelligenz? Was ganz Neues?
Yasmeen Ahmad: Der Hype rund um Artificial Intelligence (AI), Deep Learning, Machine Learning und andere Analysetechniken hat 2017 einen neuen Höhepunkt erreicht. Bereits früher hat es für Marketinganwendungen AI- und Machine-Learning-Techniken gegeben, aber die Fehlerquoten waren hoch und die Prognosequalität nicht immer perfekt. Durch die Digitalisierung und Big Data gibt es immer mehr und immer detailreichere Daten, die Präzision und Treffsicherheit von Techniken massiv verbessert haben. Algorithmen und AI sind heute nicht nur akzeptiert, sondern sind manchmal sogar besser als menschliche Entscheidungen.
MIR: Wird sich der Hype rund um diese Methoden und Instrumente fortsetzen? Wie weit kann das gehen?
Yasmeen Ahmad: Diese Techniken werden sich immer stärker durchsetzen, da die Unternehmen immer mehr Wissen im Umgang mit AI und Machine Learning aufbauen. Für alle, die in der Datenwelt up-to-date sein wollen und Real-Time-Streaming anstreben, ist das ein Muss. Auf der Überholspur sind aber nicht nur diese Techniken, sie werden auch zu einer vermehrten Automatisierung weiterer Unternehmensbereiche führen. Wer Verhalten, Bedürfnisse und Eigenschaften von Kunden für unterschiedliche Tageszeiten prognostizieren will, benötigt zig Modelle pro Kunden. Diese müssen häufig durchlaufen, um relevante Informationen zu dokumentieren und zu aktualisieren und so einen relevanten Dialog zum Kunden herzustellen. Im Bereich der Werbung gibt es das bereits: Spezialisierte Targeting-Agenturen blenden innerhalb von 15 Millisekunden nach einem definierten Verhalten eine personalisierte Werbung ein.
MIR: Wer wird all diese Analysen und Modelle erstellen können?
Yasmeen Ahmad: Das erwartete Ausmaß an Automatisierung wird zu automatisierten „Modellfabriken“ führen, die ohne Interventionen von Statistikern Modelle überwachen, aktualisieren und managen. Sich selbst adaptierende Modelle werden Milliarden von stattfindenden Interaktionen unterstützen. Außerdem werden diese automatisierten Modellfabriken auch Testmodelle ermöglichen, mit denen Marketingteams laufend unterschiedliche Varianten mittels A/B-Tests überprüfen können.