Marketing-Utopie: Individueller Echtzeit-Zugang zu Konsumenten liefert bequeme und relevante Angebote
Im letzten Jahrzehnt hat eine wahre Marketing-Revolution stattgefunden. Praktisch alle Marketing-Prozesse wurden automatisierbar, von der Segmentierung und dem Targeting bis hin zu Serviceleistungen, Werbung, Vertrieb, Einzelhandel und Preisgestaltung. Durch die Möglichkeit, individuelles Verhalten online nachzuverfolgen und mehrere Datenquellen zu „großen Datensätzen“ zusammenzuführen, können Marketingmanager Konsumenten immer besser individuell ansprechen. Auf maschinellen Lernverfahren basierende Algorithmen können Produktangebote, Werbung und Preise in Echtzeit auf Einzelpersonen zuschneiden: Was lange als Marketing-Utopie erachtet wurde, ist heute Realität. Die erreichte Personalisierung steigert die Rentabilität der Unternehmen durch exaktere Preisdiskriminierung und gleichzeitig genießen die Konsumenten mehr Komfort und relevantere Angebote. Automatisierung und Personalisierung können jedoch auch weniger positive wirtschaftliche und psychologische Folgen für Konsumenten haben, zum Beispiel höhere individuelle Preise und weniger Entscheidungsautonomie.
Höhere Einzelpreise für Verbraucher
Unternehmen können ihre Gewinne maximieren, wenn jeder Kunde für ein Produkt einen Preis bezahlt, der seiner Zahlungsbereitschaft (WTP, engl. Willingness to Pay) möglichst nahekommt. In der Vergangenheit war es unmöglich, die individuelle WTP zu bestimmen, so dass die Konsumenten oft günstiger einkaufen konnten, als es dem entsprochen hätte, was sie zu zahlen bereit waren. Heute können Prognosealgorithmen individuelle Präferenzen und Zahlungsbereitschaften mit immer höherer Präzision schätzen und personalisierte Angebote darauf abstimmen. Ein Experiment des Personalvermittlungsunternehmens ziprecruiter.com zeigte, dass das Unternehmen seine Gewinne um mehr als 80 % steigern konnte, wenn es von seiner historisch einheitlichen Preisgestaltung zu einer Algorithmen-basierten individualisierten Preisgestaltung überging. Dabei nutzte man mehr als hundert Eingabevariablen, anhand derer jeder Kunde charakterisiert wurde. Die Preisgestaltung von Uber verwendet Berichten zufolge maschinelles Lernen, um routen- und tageszeitabhängige Preise unter Berücksichtigung verschiedener Nachfragebedingungen festzulegen. Uber könnte leicht die Fahrtenhistorie und andere persönliche Daten der Kunden sowie durch maschinelles Lernen extrahierte und verknüpfte Daten verschiedener Fahrer nutzen, um noch stärker personalisierte Preise abzuleiten. Während diese Möglichkeiten den Unternehmen helfen, Ziele wie Profit- und Shareholder-Value-Maximierung voranzutreiben, sollten Kunden alarmiert sein. Eine personalisierte Preisdiskriminierung kann zwar Konsumenten mit einer niedrigeren WTP zugutekommen, da diese sonst „aus dem Markt fallen“ könnten, aber in Summe werden Konsumenten mit einer höheren WTP wahrscheinlich höhere und besser an ihre WTP angepasste Preise zahlen und weniger Konsumentenrente für sich beanspruchen können.