Login

KI und die Ära des automatisierten Marketings

Die Ära des automatisierten Marketings: Künstliche Intelligenz verändert, wie wir denken, handeln und entscheiden

Christian Hildebrand

Keywords

KI, Maschinelles Lernen, Digitale Transformation, Autonome Maschinen

den Artikel als pdf downloaden

KI – Zwischen Hoffnung und Angst
Woran denken Sie, wenn Sie „künstliche Intelligenz“ hören? Roboter? Selbstfahrende Autos? Vollautomatisierte Lager? Algorithmen, die sich selbst verbessern? Oder gar an den Untergang der Menschheit? Die meisten von uns haben einen zu engen oder einen zu weiten Blickwinkel auf das Thema. Beides ist gefährlich. Die einen sehen nur den nächsten Hype, mit dem die großen Technologiekonzerne ihre Produkte und Leistungen verkaufen wollen. Die anderen fürchten, künstliche Intelligenz (KI) könnte die Weltherrschaft übernehmen und den Menschen verdrängen. Dazwischen gibt es viele, die nicht recht wissen, was sie davon halten sollen. Doch ganz gleich, wie Sie zu KI stehen, hat die Ära des automatisierten Marketings bereits begonnen. Wir sagen Alexa, sie soll Artikel in unseren virtuellen Einkaufswagen legen, wir lassen uns von Google in einer unbekannten Stadt den Weg zum nächsten Sushi-Restaurant zeigen und wir verwandeln die kryptischen Schriftzeichen einer fremden Sprache per Mausklick in einen für uns lesbaren Text.

KI – Zurück in die Zukunft
Wenn wir die heutige wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung von künstlicher Intelligenz verstehen wollen, müssen wir einen Blick in die Vergangenheit werfen. KI klingt neu, ist es aber nicht. Der Begriff wurde bereits 1956 im Förderantrag für die sogenannte „Dartmouth Conference“ geprägt. Dies war ein Forschungsprojekt von führenden Informatikern und Mathematikern, die gemeinsam herausfinden wollten, wie es gelingen kann, dass „Maschinen Sprache verwenden, Abstraktionen vornehmen und Konzepte entwickeln, Probleme lösen, die bisher nur von Menschen gelöst werden können, und sich selbst weiter verbessern“. Das liest sich wie die Beschreibung einer aktuellen KI-Konferenz im Silicon Valley oder anderswo. Aber künstliche Intelligenz gibt es als Forschungsbereich eben schon seit Jahrzehnten, und die Wissenschaftler arbeiten eigentlich von jeher an den gleichen Problemen, vom maschinellen Sehen bis hin zur Verarbeitung von natürlicher Sprache. Was ist passiert? In den 70er- und 80er-Jahren gingen die Forschungsaktivitäten im KI-Bereich deutlich zurück; diese Phase wird auch als „KI-Winter“ bezeichnet. Die staatliche Finanzierung von entsprechenden Forschungsprogrammen ließ erheblich nach, und die Unternehmen verloren das Vertrauen in die vollmundigen Versprechen, die zu Beginn der KI-Forschung gemacht worden waren. Dass der Fortschritt ins Stocken kam, hängt mit einer Reihe von Faktoren zusammen, aber eines der größten Hindernisse war die mangelnde Rechenleistung von Computern, die damals nicht ausreichend große Datenmengen verarbeiten konnten.

KI ­– Reloaded
Ende der 90er-Jahre begann ein neuer KI-Frühling. IBMs Schachcomputer Deep Blue schaffte es 1997 als erste Maschine, den damals amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparow zu schlagen. Gleichzeitig investierten große Forschungseinrichtungen weltweit, allen voran die staatlichen Hochschulen in Japan, in die Entwicklung einer neuen Generation von Computersystemen. Unterdessen mobilisierte die Dotcom-Blase in nie gekanntem Ausmaß Seed-Finanzierung für Technologieunternehmen; die Preise für Datenspeicher brachen ein, und die Rechenleistung von Computern schnellte exponentiell in die Höhe. Das Platzen der Dotcom-Blase verursachte einen kleinen Rücksetzer, konnte den Fortschritt der technischen Infrastruktur und die Entwicklungen im Bereich des maschinellen Lernens aber nicht aufhalten. Damals wurde die Grundlage für viele der Geräte und Leistungen gelegt, die heute für uns selbstverständlich sind. Unternehmen wie Amazon, Google, Alibaba oder Baidu verdanken ihre marktbeherrschende Stellung der Weiterentwicklung und Nutzung der künstlichen Intelligenz.

KI – Klar definierte Probleme besser lösen als der Mensch
Aber was genau ist künstliche Intelligenz, und was bedeutet sie für unser Leben? Zunächst einmal gibt es zwei Grundtypen: schwache KI (Artificial Narrow Intelligence, ANI) und starke KI (Artificial General Intelligence, AGI). Erstere bezieht sich auf Maschinen, die in der Lage sind, spezifische, eng definierte Aufgaben zu erledigen. Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es möglich ist, dass Ihr Smartphone Bilder nach Personen sortiert? Wie kann Ihr Telefon diese Personen „kennen“, um sie korrekt zuzuordnen? Ihr Handy – genauer gesagt die Bildverarbeitungssoftware – kennt die Personen natürlich nicht. Die Menschen, die dahinter stehen, sind für das System auch ohne Belang. Die Software erledigt schlicht und ergreifend eine klar definierte Aufgabe: Suche Fotos mit Menschen, die ähnlich oder gleich aussehen. Künstliche Intelligenz sortiert Fotos, filtert Spam-Mails aus dem Posteingang, erfasst Ihren Standort für Restaurant-Empfehlungen oder wandelt Ihre Stimme in einen maschinenlesbaren Text um, wenn Sie mit Siri oder Google Assistant sprechen. In all diesen Fällen löst künstliche Intelligenz klar definierte Aufgaben ohne menschliches Eingreifen.
Erinnern Sie sich noch, als der IBM-Computer Watson das amerikanische Fernsehquiz Jeopardy gegen den Rekordgewinner Ken Jennings gewann? Dahinter steckte eine sehr begrenzte Form der Intelligenz: Das System war „lediglich“ in der Lage, die Antworten blitzschnell in einer riesigen Datenbank nachzuschlagen. KI schlägt den Menschen inzwischen in vielen Bereichen; spezialisierte Systeme erkennen Melanome besser als viele Ärzte, und leistungsstarke Analyse-Engines erstellen auf Basis Ihrer Facebook-Likes ein zutreffenderes psychologisches Profil von Ihnen als es Ihre engsten Freunde könnten. In all diesen Fällen gibt es ein klar definiertes Problem, und die meisten KI-Anwendungen, die wir heute nutzen, basieren auf dieser schwachen Form der künstlichen Intelligenz.

 

KI – Jedes Problem besser lösen als Menschen
Die starke künstliche Intelligenz (Artificial General Intelligence, AGI) zielt hingegen darauf ab, nicht nur bei einzelnen Aufgaben das menschliche Kompetenzniveau zu erreichen oder zu übertreffen, sondern in allen Bereichen; starke KI-Systeme sollen wie wir Menschen planen, schlussfolgern und ein Bewusstsein haben. Statt nur eine vorgegebene Aufgabe zu lösen, können starke KI-Systeme ihre Ziele anpassen und Maßnahmen ergreifen, die über die ursprüngliche Aufgabe hinausgehen. Dabei wäre es denkbar, dass Ihr Handy nicht nur Fotos nach den darauf abgebildeten Menschen sortiert, sondern zusätzlich erfasst, welche Marken Sie tragen, wo Sie sind oder wann Sie sich mit welchen Personen treffen; davon ausgehend könnten KI-Systeme Sie und die anderen Personen auf den Fotos auf jeder beliebigen Website mit gezielten Werbebotschaften ansprechen. In einem anderen, ziemlich furchterregenden Szenario, das hoffentlich niemals eintritt, könnte das starke KI-System ein selbstfahrendes Auto sein, das seine Insassen umbringt, um ihre Lebensversicherungen zu kassieren. Oder denken Sie an Ava, die humanoide künstliche Intelligenz im Kinofilm Ex Machina, die ihren Schöpfer Nathan letztlich umbringt, um ihre Freiheit zu erlangen und in die menschliche Gesellschaft einzutauchen.

KI – Oft hinter den Kulissen
Obwohl viel darüber diskutiert wird, wie sich künstliche Intelligenz regulieren lässt, und wie wir verhindern können, dass die Maschinen die Weltherrschaft an sich reißen und sich so furchterregend verhalten wie eben beschrieben, basieren die Anwendungen, die momentan unseren Alltag dominieren – von Alexa über Online-Übersetzer bis zur automatischen Fotosortierung im Handy – allesamt auf einer sehr engen Definition von künstlicher Intelligenz. Systeme für solche klar begrenzten Aufgaben setzen sich in Wirtschaft und Gesellschaft durch, weil sie das jeweilige Problem besser lösen als Menschen. Wir nutzen ständig künstliche Intelligenz, sind uns dessen oft nur nicht bewusst. KI ist mehr als Roboter und selbstfahrende Autos – es ist die Software, die in Robotern, selbstfahrenden Autos oder in unseren mobilen KI-Fabriken namens Handy steckt. Alexa ist keine künstliche Intelligenz; sie ist die vermenschlichte Verpackung der künstlichen Intelligenz, die dafür sorgt, dass diese runden Boxen mit uns sprechen können.

Wertschöpfung in der KI-Wirtschaft
Um wirklich zu verstehen, wie künstliche Intelligenz jede Faser unseres Berufs- und Privatlebens verändert, müssen wir abstrahieren – weg von den konkreten Ausprägungen, wie selbstfahrende Autos, digitale Sprachassistenten oder Übersetzungssysteme. KI schafft neue Formen des Wettbewerbs, neue Wertschöpfungsketten und neue Möglichkeiten, Volkswirtschaften rund um den Globus zusammenzuschalten. Box 1 und Abbildung 2 zeigen die kritischen Ebenen und Akteure unserer KI-getriebenen Wirtschaft, die zusammenarbeiten müssen, um langfristig einen Mehrwert zu schaffen. Kurzum: KI ist mehr als bloße Technologie. Sie begründet ein neues Wirtschaftssystem, dessen Motor das Zusammenspiel aus leistungsstarken Computern, Daten und Algorithmen zur Verarbeitung dieser Daten ist.

Wir nutzen ständig künstliche Intelligenz, sind uns dessen oft nur nicht bewusst.

AI als Inspiration für Ihr Unternehmen
Die künstliche Intelligenz ist inzwischen so weit, dass sie jeden betrifft – in traditionellen Wirtschaftsbereichen ebenso wie in der Digitalwirtschaft. Wir wollen Ihnen zeigen, wie KI Ihrem Unternehmen oder sogar Ihrer gesamten Branche neue Impulse geben kann. Wir haben führende Experten aus unterschiedlichen Bereichen zusammengebracht – von der maschinellen Verarbeitung natürlicher Sprache über Computational Psychology bis hin zu Marketing und Vertrieb.

  • Den digitalen Fußabdruck der Verbraucher nutzen
    Sandra Matz und Michal Kosinskizeigen, wie sich aus dem „digitalen Fußabdruck“ von Konsumenten sehr zielgenaue Kampagnen entwickeln lassen – von Unternehmenswerbung bis hin zu individuellen politischen Wahlkämpfen. Allein auf Basis der Facebook-Likes lassen sich bereits erstaunlich exakte psychologische Profile erstellen, die wiederum als Grundlage für deutlich effektivere Kommunikationskampagnen dienen können. Bradley Taylor erklärt, wie sich aus Social-Media-Kommentaren sehr zuverlässig persönliche Vorlieben ableiten lassen – besser und schneller als mit langwierigen Verbraucherumfragen. Anhand der Kritiken, die Kunden im Internet abgeben, lassen sich sogar die Vorlieben bei ganz konkreten Eigenschaften im Unterhaltungselektronikbereich ableiten, die wiederum eine zuverlässige Grundlage für die Prognose der Verkaufszahlen von TV-Marken darstellen.
  • Chatbots zur Verbesserung von Kundenservice und Vertrieb
    Ein Kanal, der in der Kommunikation mit Kunden immer beliebter wird, sind Chatbots. Viele betrachten die Kommunikationsroboter als reines Instrument zur Serviceautomatisierung, um rund um die Uhr, sieben Tage die Woche auf Kunden reagieren zu können. Gemeinsam mit Anouk Bergner habe ich aber herausgefunden, dass Chatbots mehr können. Sie lassen sich gezielt einsetzen, um den Kunden ein natürlicheres Service-Erlebnis zu bieten, und eignen sich sogar als autonome digitale Verkäufer. Rhond Hadi zeigt aber auch, dass die Vermenschlichung von Maschinen nach hinten losgehen kann. Ihre Arbeit basiert auf Millionen von Interaktionen zwischen Kunden und Chatbots bei einem Telekommunikationsunternehmen und zeigt, dass Kunden, die bereits verärgert sind, sich in eine Wutspirale hineinsteigern, wenn sie mit einem menschenähnlichen Chatbot statt eines Menschen zu tun haben. In solchen Fällen werden hohe Erwartungen oft nicht erfüllt; die Folge sind weitere negative Markenbewertungen, eine geringere Kundenzufriedenheit und letztlich ein schwächeres Kaufinteresse.

Autor/en

Christian Hildebrand, Direktor und Professor für Marketing Analytics, Institut für Marketing (IfM-HSG), Universität St. Gallen, Schweiz
christian.hildebrand@unisg.ch

Literaturhinweise

Bostrom, Nick (2014): “Superintelligence: Paths, Dangers, Strategies“, Oxford University Press, Inc., New York
Russell, S.; Dewey, D. & Tegmark, M. (2015): “Research priorities for robust and beneficial artificial intelligence”, AI Magazine, Vol. 36(4), 105-114.
Tegmark, M. (2017): ”Life 3.0: Being Human in the Age of Artificial Intelligence“, New York. Knopf.