MIR: Diese Ausgabe unserer Zeitschrift legt ihren Fokus auf die dunklen Seiten des digitalen Marketings, ein Thema, mit dem Sie sich beinahe seit der Entstehung des Internets beschäftigen. In Ihrem jüngsten Buch Team Human argumentieren Sie, dass digitale Technologien, soziale Medien und KI-gestützte Anwendungen in ihrem Kern „anti-human“ sind. Wie können Werkzeuge, die allgemein dafür gelobt werden die Handlungsfähigkeit von Menschen zu erweitern und unser Leben bequemer zu machen, gegen Menschen gerichtet sein?
Douglas Rushkoff: Unter dem Vorwand, Probleme zu lösen und den Menschen das Leben zu erleichtern, räumen die meisten unserer technologischen Innovationen die Menschen nur aus dem Blickfeld oder aus dem Weg. Wir haben nur wenig Kontrolle über die Programmierung der Technologien, stattdessen programmieren die Technologien uns. Wir werden von den führenden Technologieunternehmen für uns unbekannte Zwecke instrumentalisiert und optimiert.
MIR: Warum meinen Sie, dass die Technologien uns programmieren?
Douglas Rushkoff: Technologieanwender sind ständiger automatisierter Manipulation ausgesetzt. Amerikas führende Universitäten lehren und entwickeln „Persuasive Technology“, die dann auf Plattformen, E-Commerce-Seiten und sozialen Netzwerken bis hin zu Smartphones und Fitness-Armbändern implementiert wird. Ziel dieses Ansatzes ist es, „Verhalten zu verändern“ und „Gewohnheiten zu etablieren“, meist ohne Wissen oder Zustimmung des Nutzers. Der Designtheorie zufolge ändern Menschen ihr Verhalten nicht, weil sich ihre Einstellungen und Meinungen ändern. Es funktioniert genau umgekehrt: Zuerst handeln die Menschen und ändern dann ihre Einstellungen, so dass diese ihrem Verhalten entsprechen. In diesem Denkmodell sind wir eher Maschinen als denkende, autonome Wesen. Oder zumindest können wir dazu gebracht werden, so zu funktionieren.
MIR: Das Problem ist also, dass wir keine aktiven Entscheidungen mehr treffen, sondern das machen, was die Technologie von uns will?
Douglas Rushkoff: Richtig, so wie Innenarchitekten in realen Räumen bestimmte Farben, Musik oder Lichtzyklen einsetzen, um gewünschtes Verhalten zu stimulieren, so nutzen Designer von Web-Plattformen und Smartphone-Apps sorgfältig getestete Animationen und Sounds, um bei den Nutzern optimale emotionale Reaktionen auszulösen. Jede Komponente einer digitalen Umgebung wird auf ihre Fähigkeit getestet, bestimmte Reaktionen hervorzurufen, seien es mehr Views, mehr Käufe oder einfach mehr Abhängigkeit. Eine neue Nachricht kommt mit einem fröhlichen Ton, das Ausbleiben von Post klingt traurig. Die physische Geste des Wischens, um die eigenen Social-Media-Feeds zu aktualisieren, verankert und verstärkt den zwanghaften Drang, nachzusehen, obʼs was Neues gibt – vorsichtshalber.
MIR: Die meisten Menschen sind da aber recht gelassen und nicht allzu besorgt. Sie genießen und nutzen digitalen Dienste, ohne sich manipuliert zu fühlen. Was ist das Problem, wenn die Nutzer zufrieden sind?
Douglas Rushkoff: Das Problem ist, dass es den Technologieunternehmen nicht mehr primär darum geht, Menschen zu helfen. Technologien werden als reine Investitionen betrachtet, die Wachstum und steigende Aktienkurse bringen sollen. Benutzer und ihr Verhalten werden optimiert, um diese Ziele zu erreichen. Die süchtig machenden Reize von Spielautomaten werden durch Algorithmen in Newsfeeds eingebaut, um eine Technologie-Abhängigkeit zu fördern und uns dazu zu bewegen, gegen unser ursprünglich erworbenes und besseres Urteilsvermögen zu handeln. Die Technologie optimiert uns, anstatt dass wir die Technologien zu unserem Vorteil nutzen. Es hat eine Art Figur-Grund-Umkehrung stattgefunden, wie bei der Rubinʼschen Vase. Was eigentlich die Figur sein sollte, ist zum Hintergrund geworden.