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Die Zukunft des Einzelhandels

Smarte Technologien: Wie der stationäre Handel wertvolle Kundendaten gewinnt

Fabian Buder, Anja Dieckmann, Holger Dietrich und Julia Wieting

Keywords

Technologien im Einzelhandel, FMCG, Supermarkt, Gesichtserkennung, Emotionsmessung, Virtuelle Realität, Augmented Reality

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Traditionelle Einzelhändler bedienen anonyme Kunden
In einem Supermarkt schnappt sich Paul, ein beliebiger Kunde, einen Einkaufswagen und zieht damit seine Runden durch den Markt. Aus Sicht des Supermarkts ist er nur ein weiterer anonymer Einkäufer. Er nimmt Artikel aus den Regalen, sieht sich die Verpackung an, vergleicht Produktinformationen und stellt manche Artikel zurück, während er andere in den Einkaufswagen legt. Bei einem der Produkte wird Paul aus den Informationen zu Allergenen nicht schlau und entscheidet sich dagegen, obwohl es auf seinem Einkaufszettel steht. Er geht zur Kasse, zahlt bar und bringt den Einkaufswagen zurück, der jetzt auf den nächsten anonymen Kunden wartet. Einzelhändler wissen sehr wenig über Verbraucher wie Paul. Die Überwachungskameras haben ihn mehrfach aufgenommen, aber die Bänder werden nach einiger Zeit gelöscht, und der Händler erfasst und speichert keinerlei verwertbare persönliche Daten – Daten, die dem Händler helfen könnten, das Einkaufserlebnis zu verbessern, Kunden an sich zu binden und den Gewinn zu steigern.

Onlinehändler kennen ihre Kunden sehr genau
Wer die Website eines Onlinehändlers besucht, hinterlässt Spuren. Jeder Klick und jede Interaktion auf der Seite erzeugen Daten über einen Kunden. Beim Anmelden oder bei einem Kauf offenbaren Nutzer ihren Namen, ihre Adresse und oft noch weitere Informationen. Digitale Einzelhändler setzen Big-Data-Anwendungen und intelligente Algorithmen ein, um die Wünsche und Bedürfnisse der Verbraucher zu ermitteln, das Einkaufsverhalten vorherzusagen, Produkte zu empfehlen und Warenbestände zu optimieren, um Lagerkosten und Lieferzeiten zu minimieren (Abbildung 1).

 

Digitalunternehmen wie WeChat in China und Amazon GO in den USA und in Europa haben vor Kurzem begonnen, die Online- und die Offlinewelt miteinander zu verbinden: Sie bauen automatisierte Selbstbedienungssupermärkte, die zum Teil sogar ohne Kassen auskommen, ein bisher nie gekanntes Maß an Einkaufskomfort bieten und zusätzliche Daten über ihre Kunden erzeugen.

Mit der richtigen Technologie kann der stationäre Handel den Datennachteil ausgleichen
Traditionelle Einzelhändler müssen dieser Entwicklung nicht tatenlos zusehen. Es gibt inzwischen viele Technologien, mit denen der stationäre Handel mehr wertvolle Informationen über seine Kunden gewinnen und auf dieser Grundlage bessere Marketingentscheidungen treffen kann. Intelligent sowie dem Kunden gegenüber transparent und respektvoll eingesetzt können die Technologien, die wir im Folgenden beschreiben, in einem Laden fast so viele Daten generieren wie die Analysetools einer Website (Abbildung 2).

 

Kameras und Sensoren erfassen die Customer Journey in Läden

Den Weg der Kunden durch einen Laden nachzuvollziehen bringt Erkenntnisse, die sich für viele Zwecke nutzen lassen – vom Optimieren des Ladenlayouts über den besten Ort für Zweitplatzierungen bis hin zu tageszeitabhängigen Angebotsanpassungen. In einer Machbarkeitsstudie haben wir eine Einkaufstypologie auf Basis von Laufwegen entwickelt. Dazu wurde in einem deutschen Supermarkt über einen Zeitraum von einem Jahr erfasst, welche Wege Kunden durch den Markt nehmen. Ultrabreitbandantennen (UWB) haben die Signale von batteriebetriebenen Sendern aufgezeichnet, die an Einkaufswagen und Einkaufskörben befestigt waren. Auf Basis von Faktoren wie die zurückgelegte Strecke pro Tour durch den Markt, Geschwindigkeit und Verweildauer in bestimmten Bereichen konnten wir acht Arten von Einkaufstouren ermitteln. „Unstrukturiertes Nachkaufen“ zum Beispiel zeichnet sich durch eine hohe zurückgelegte Entfernung aus, während „Spezialmission“ und „Last-Minute-Einkauf“ vor allem durch eine hohe Geschwindigkeit auffielen. In Verbindung mit Umfragen und Umsatzdaten lassen sich zudem noch detailliertere Verhaltensunterschiede zwischen den Segmenten herausarbeiten. Solche Daten ermöglichen gezieltes Targeting von Kunden in Abhängigkeit ihres Einkaufsverhaltens, zum Beispiel Erinnerungen für häufig vergessene Artikel bei unstrukturierten Nachkäufen, ein optimiertes Category-Management und Zweitplatzierungen mit sinnvollen Bundles für Spezialmissionen und speziell für Last-Minute-Einkäufe konzipierte Gänge im Supermarkt.

Entscheidungen beobachten: Interaktion am Regal
Wie sich Einkäufer vor dem Regal verhalten, liefert weitere Informationen. Kameras an der Decke oder an den Regalen ermöglichen in Verbindung mit intelligenten Algorithmen das Ermitteln von bestimmten Verhaltensweisen. Die Palette reicht von relativ groben Unterscheidungen zwischen Vorbeigehen und Stehenbleiben bis hin zur Erfassung von Handbewegungen und Interaktionen mit Produkten. Die Ergebnisse zeigen Bereiche auf, die außergewöhnlich viel oder wenig Aufmerksamkeit in Form von Stehenbleiben oder Produktinteraktionen erhalten. So können Händler zum Beispiel ermitteln, welche Artikel Kunden häufig in die Hand nehmen, dann aber wieder zurücklegen. Eine weitere Analyse kann klären, warum die Kunden das Produkt trotz des anfänglichen Interesses doch nicht kaufen. Aus unserer eigenen Erfahrung mit der Erfassung von Regalinteraktionen wissen wir jedoch, dass solche Daten heute noch viele Fehlklassifikationen enthalten können und sehr vorsichtig ausgewertet und analysiert werden müssen. Inzwischen arbeiten aber eine Reihe von Technologieunternehmen an diesem Problem. Amazon GO verlässt sich sogar schon bei der Ermittlung des Rechnungsbetrags auf Regalerfassungstechnologien. Deshalb gehen wir davon aus, dass die Technologie sich schon relativ bald so weit verbessern wird, dass eine zuverlässige Anwendung für Händler möglich wird.

Gesichtserkennung: Kundenprofile ohne Registrierung
Moderne POS-Systeme ermöglichen eine effiziente und schnelle Erfassung, welche Produkte wo und zu welchem Preis gekauft werden. Was fehlt, sind Informationen über den Kunden – darüber, wer eigentlich ein bestimmtes Produkt kauft. Selbst einfache Kundenprofile auf Basis von soziodemografischen Faktoren wie Altersgruppe, Geschlecht und ob der Einkäufer allein ist oder in Begleitung, können zu einer zielgruppengerechteren Kommunikation beitragen. Inzwischen gibt es intelligente Kameras, die anhand der aufgenommenen Gesichter automatisch das Alter schätzen und das Geschlecht bestimmen. Gespeichert werden nur diese Metadaten, nicht aber das Gesicht an sich, entsprechend den strengen Regeln der EU-Datenschutzgrundverordnung, die festlegen, welche persönlichen Daten nur mit ausdrücklicher Genehmigung gespeichert werden dürfen. POS-Systeme, die mit dem anonymisierten Videoanalysetool AVARD ausgestattet sind, das vom Fraunhofer Institut entwickelt und mit dem Europäischen Datenschutz-Gütesiegel zertifiziert wurde, können jeder erfassten Verkaufstransaktion Kundendaten hinzufügen. Trotz Datenschutzzertifizierung müssen solche Technologien aber vorsichtig eingesetzt werden und dem Bedürfnis der Menschen nach Transparenz und Kontrolle Rechnung tragen. Ein deutscher Einzelhändler löste mit der Einführung eines solchen Systems vor Kurzem einen öffentlichen Aufschrei aus und ließ die Technologie kurze Zeit später wieder fallen. Um den Bedenken und Widerständen der Verbraucher gerecht zu werden, sollten Händler nach Möglichkeiten suchen, wie auch die Kunden profitieren können, und diese entsprechend kommunizieren.

Intelligent sowie dem Kunden gegenüber transparent und respektvoll eingesetzt können Technologien in einem Laden fast so viele Daten generieren wie die Analysetools einer Website

Gefühle automatisch erkennen: Die emotionale Seite des Kundenerlebnisses
Eine automatische Analyse der von Kameras erfassten Gesichter ermöglicht eine Interpretation des emotionalen Zustands einer Person in Echtzeit. In Verbindung mit kameragestützter Blickverfolgung zur Ermittlung der betrachteten Produkte können Händler zum Beispiel erkennen, wann ein Kunde zusätzliche Informationen und Unterstützung benötigt. Dem Supermarktkunden Paul aus unserer Einleitung stand die Verwirrung sicher ins Gesicht geschrieben, als er sich auf der Produktverpackung über Allergene informierte. Mit etwas Unterstützung wäre seine Entscheidung vielleicht anders ausgefallen.

A/B-Tests in virtueller Realität zur Optimierung von Kundenerlebnis und Umsatz
Onlinehändler können problemlos A/B-Tests einsetzen, um das Kundenerlebnis und den Umsatz zu optimieren. Für Händler mit einem physischen Laden ist es deutlich aufwändiger und teurer, mit Ladenlayout, Sortiment oder Preisen zu experimentieren. Virtual Reality (VR) kann aber auch im stationären Handel kontrollierte Experimente ermöglichen. Damit lassen sich etwa unterschiedliche Ladenlayouts relativ schnell und effizient miteinander vergleichen. Der große Vorteil gegenüber A/B-Tests in der realen Welt ist das hohe Maß an Kontrolle über die Situation und die Möglichkeit, erweiterte Informationen über das Verhalten und die Wahrnehmung eines Kunden zu erhalten, zum Beispiel über Blickverfolgung. Unsere Untersuchungen legen nahe, dass sich VR gut eignet, um echte Kaufentscheidungen vorherzusagen. In Zusammenarbeit mit dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und dem Exzellenzcluster Kognitive Interaktionstechnologie (CITEC) der Universität Bielefeld haben wir mit dem etablierten Choice-Based-Conjoint-Verfahren das Entscheidungsverhalten in zwei unterschiedlichen simulierten Settings mit realem Kaufverhalten verglichen: In einem simulierten Onlineshop am PC und vor einem dreidimensionalen, vollständig immersiven Supermarktregal in einer VR-Umgebung (siehe Abb. 3). Die Simulation des Supermarkts mit VR erreichte eine vergleichbar hohe interne und externe Validität wie die Simulation des Onlineshops am PC. Das heißt, das Verhalten in VR war in sich schlüssig und realitätsnah und deckte sich zudem weitgehend mit dem Verhalten von Menschen vor einem tatsächlichen Supermarktregal. Es ist aber zu bedenken, dass es immer noch sehr zeit- und kostenintensiv ist, 3D-Modelle für VR-Anwendungen zu konzipieren und zu programmieren. Wenn die Basisprogrammierung steht, lassen sich virtuelle Welten aber relativ einfach anpassen.

Augmented Reality als bequeme und flexible Entscheidungshilfe
Augmented Reality (AR) bedeutet buchstäblich, dass ein reales Umfeld um digitale Inhalte oder Informationen erweitert wird. AR-Apps können es Kunden leichter machen, sich in einem Laden zurechtzufinden, und Kaufentscheidungen effizient unterstützen, indem sie zum Beispiel Produktmerkmale hervorheben, die dem Kunden wichtig sind. Mit ihrem Smartphone können sich Kunden zusätzliche Informationen zu Allergenen, Kundenbewertungen oder zum CO2-Fußabdruck aller Produkte in dem betreffenden Regal anzeigen lassen. So können AR-Anwendungen den Datennachteil des stationären Handels gegenüber dem Onlinehandel ausgleichen. Mit erweiterter Realität ist es sogar möglich, den Inhalt eines Regals visuell zu filtern.
Von AR-Anwendungen können Händler lernen, nach welchen Informationen die Kunden im Laden suchen, warum ein Verbraucher gerade einkauft, und wie der Entscheidungsprozess abläuft. Diese Erkenntnisse können letztlich dazu beitragen, das Einkaufen bequemer zu machen. Wissenschaftler des KIT entwickeln AR-Anwendungen, die den Kunden im Laden eine Entscheidungshilfe geben sollen. Die Systeme sollen unter anderem auf den automatisch ermittelten Informationsbedarf eingehen und berücksichtigen, in welcher Phase des Entscheidungsprozesses ein Kunde sich befindet.

 

Einkaufen in datenreichen Umgebungen
In nicht allzu ferner Zukunft wird unser Beispielkunde Paul beim Betreten des Supermarkts von Kameras als Stammkunde erkannt und über ein Display am Einkaufswagen individuell begrüßt. Nachdem der Händler Pauls Weg durch den Markt eine Zeit lang nachverfolgt und die ausgewählten Produkte analysiert hat, kennt er den vermutlichen Zweck von Pauls heutigem Ladenbesuch: Zutaten für ein Abendessen für drei bis fünf Personen einkaufen. Ein intelligenter Assistent versucht ab diesem Zeitpunkt, Paul zu unterstützen – zum Beispiel mit Weinempfehlungen und einer Erinnerung an grundlegende Zutaten, die häufig vergessen werden. Für Paul wird das Einkaufen angenehmer und kostet weniger Zeit, und der Supermarkt profitiert von Upselling, weil Paul der Empfehlung des Systems folgt und einen teureren, prämierten Wein kauft, um seine Gäste zu beeindrucken. Das Zeitalter der anonymen Einkäufer ist vorüber. Der stationäre Handel muss auf der Grundlage von Daten individuelle Einkaufserlebnisse konzipieren und seinen Kunden neue datengestützte Services bieten. Sonst läuft er Gefahr, von neuen, digitalen Wettbewerbern abgehängt zu werden, die in stationäre Läden investieren und mit leistungsstarken Big-Data-Anwendungen das Einkaufsverhalten ihrer Kunden sowohl Online als auch Offline analysieren.

Autor/en

Fabian Buder, Head of Future & Trends Research, Nuremberg Institute for Market Decisions, Nuremberg, fabian.buder@nim.org

Anja Dieckmann, Head of Behavioral Science, Nuremberg Institute for Market Decisions, Nuremberg, anja.dieckmann@nim.org

Holger Dietrich, Senior Researcher Future & Trends and Data Science, Nuremberg Institute for Market Decisions, Nuremberg, holger.dietrich@nim.org

Julia Wieting, Trainee Category Management Analyst, REWE Group, Cologne

Literaturhinweise

Contigiani, M., Pietrini, R., Mancini, A., & Zingaretti, P. (2016): “Implementation of a tracking system based on UWB technology in a retail environment”, Proceedings of the 12th IEEE/ASME MESA Conference, 1-6.  https://ieeexplore.ieee.org/abstract/document/7587123

Pfeiffer, J., Pfeiffer, T., & Meißner, M. (2015): “Towards attentive in-store recommender systems”, in D. Power & I. Lakshmi (Eds.), Annals of Information Systems: Vol. 18. Reshaping Society through Analytics, Collaboration, and Decision Support, Springer, 161-173.

Garbas, J.U., Ruf, T., Unfried, M. & Dieckmann, A. (2013): “Towards Robust Real-Time Valence Recognition from Facial Expressions for Market Research Applications”, Proceedings of the Humaine Association Conference on Affective Computing and Intelligent Interaction, 570-575. https://ieeexplore.ieee.org/document/6681491

Kárník, J., & Streit, J. (2016): “Summary of available indoor location techniques”, IFAC-Papers OnLine, Vol. 49 (25), 311-317.
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S240589631632691X