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Digitale Transformation

Nivea & Co: Digitaler Mehrwert statt Buzzword-Bingo

GfK MIR Interview mit Martin Wulle, Corporate Vice President der Global Business Unit Digital & E-Commerce bei Beiersdorf

„In unserer zunehmend digitalen Welt müssen sich Marken mehr denn je öffnen und in den Dialog mit ihren Verbrauchern gehen“, meint Martin Wulle in unserem Interview. Allerdings darf auf der Reise in ein digitales Umfeld nicht das Markenversprechen auf der Strecke bleiben. Die digitale Transformation bringt für Beiersdorf viele Änderungen mit sich. Nicht gerüttelt wird jedoch am Kern der vielen erfolgreichen Marken, allen voran dem Flaggschiff Nivea. Dass Markenwerte übersetzt und nicht durch digitalen Aktionismus ersetzt werden, ist Beiersdorf besonders wichtig.

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MIR: Beiersdorf ist eines der führenden Unternehmen im Bereich der Hautpflege. Auf den ersten Blick geht es da ja mehr um Schönheit und Wohlgefühl als um Technik oder Digitalisierung. Wie sehr betrifft Sie das ganze Thema der digitalen Transformation überhaupt?

Martin Wulle:  Auch bei uns ist die digitale Transformation nicht mehr wegzudenken und ein elementarer Bestandteil der Unternehmensstrategie. Zu allererst sind natürlich Marketing und Vertrieb betroffen, genauso aber auch die ganze Supply Chain oder Human Resources. Im Rahmen unserer  Unternehmensstrategie „Blue Agenda“ haben wir für die Digitalisierung eine Roadmap mit klaren Ziele bis 2020 entwickelt.

MIR:  Traditionsreiche Unternehmen mit einer gewissen Größe gelten ja landläufig nicht unbedingt als die aufgeschlossensten gegenüber Änderungen. Wie  geht es Beiersdorf mit seiner 130-jährigen Geschichte und  weltweit über 17.000 Mitarbeitern mit dem digitalen Zeitalter?

Martin Wulle: Wir setzen hier auf mehreren Ebenen an, um möglichst alle Mitarbeiter abzuholen. Zuallererst wollen wir den Digital IQ unserer Mitarbeiter durch gezielte Weiterbildung wie z.B. eLearning Programme und einen eigenen „Digital Campus“ erhöhen. Parallel bringen wir externes Know-how durch Digitalexperten ins Unternehmen.  In unserer „Digital Factory“ arbeiten bereits heute Mitarbeiter in einem agilen Umfeld sehr erfolgreich zusammen.

MIR: Könnten Sie uns Ihre „Digital Factory“ etwas näher beschreiben?

Martin Wulle: Die Digital Factory ist eine eigene, räumlich von Beiersdorf getrennte Location. Dort haben wir die unterschiedlichsten Professionen wie User Experience (UX)-Designer, Entwickler, Agenturen, Marketingleute konzentriert, um digitale Projekte zu entwickeln. Der Raum sieht  ganz anders aus als das klassische Unternehmen und auch die Arbeitsweisen sind komplett neu. Es gibt z.B. keine festen Arbeitsplätze mehr. Man sieht in real time auf riesigen Life-Dashboards die wichtigsten Kennzahlen der Projekte und mit Life-Monitoring unsere paid, owned und earned Aktivitäten wie z.B. unsere Website Analytics und unseren Social Media Aktivitäten. Das gibt eine ziemlich gute Mischung aus Offenheit, Kreativität und klassischem Markenartikel-Denken.

MIR: Sind das alles eigene Leute oder eigenständige Dienstleister?

Martin Wulle: Sowohl als auch. Es gibt Beiersdorf-Mitarbeiter, die fix dort arbeiten. Manche sind aber z.B. auch nur 2 Tage die Woche für spezielle Projekte dort. Andererseits gibt es auch viele Externe, z.B. Digitalagenturen, mit denen offen und  flexibel in einem agilen Umfeld zusammengearbeitet wird. Die Teams sind jedenfalls alle sehr interdisziplinär.

Über Martin Wulle
Martin Wulle, ist seit 2013 Corporate Vice President der Global Business Unit Digital & E-Commerce bei Beiersdorf. Der Experte für digitale Transformation für FMCG-Unternehmen studierte Marketing an der HSBA Hamburg School of Business Administration in Hamburg. Martin Wulle bekleidete unterschiedliche Positionen in Marketing und Vertrieb bei Beiersdorf in Hamburg, bevor er verschiedene führende Auslandspositionen für Beiersdorf in den USA und in Osteuropa innehatte. So baute  Herr Wulle als General Manager von Beiersdorf das Geschäft in der Ukraine auf. Nach zwei Stationen im Corporate Marketing als Corporate Marketing Director für die Markenkategorien NIVEA Bath Care und NIVEA Deo übernahm er 2013 die neu geschaffene Position des Vice President Digital & E-Commerce.

Über Beiersdorf
Die Beiersdorf AG ist ein börsennotierter und weltweit tätiger deutscher Konsumgüterkonzern mit Sitz in Hamburg. Das Unternehmen wurde 1882 begründet und hat im Laufe seiner Geschichte zahlreiche bekannte Marken im Bereich Hautpflege und Kosmetik aufgebaut. Zu den bekanntesten zählen Nivea, Tesa, Labello, La Prairie, Eucerin und Hansaplast.

Mit über 150 Tochtergesellschaften ist Beiersdorf heute weltweit vertreten. Die Marke Nivea wird in über 200 Ländern der Welt vertrieben und ist – rund 100 Jahre nach Entstehung – eine der größten Hautpflegemarken der Welt. Europa ist mit 58 Standorten der Beiersdorf Basismarkt. Gleichzeitig verstärkt Beiersdorf seine Präsenz in den weltweiten Wachstumsmärkten – allen voran Brasilien, China und Russland. Mit neuen regionalen Entwicklungszentren wie beispielsweise in Wuhan, China, oder Mexiko rückt Beiersdorf noch näher an die Bedürfnisse der Verbraucher in diesen wichtigen Zukunftsmärkten heran.

2015 erwirtschaftete der Beiersdorf Konzern mit etwas mehr als 17.000 Mitarbeitern weltweit einen Umsatz von knapp 6,7 Mrd. €.

MIR: Und wie tragen Sie die Projekte, Themen und Anwendungen dann zu Beiersdorf hinein?

Martin Wulle: Wir stellen uns das vor wie ein Lagerfeuer. Damit es richtig Feuer fängt, packe ich alle Scheite an einer Stelle zusammen. Wenn die einzelnen Scheite dann richtig brennen, kann ich die Glut verteilen und auch im Unternehmen selbst ein Feuer entfachen. Wenn dann in einigen Jahren ganz Beiersdorf auf die digitale Welt umgestellt ist, kann man ausgelagerte Bereiche möglicherweise auch wieder auflösen.

MIR: Und der Digital Campus stellt sicher, dass die Glut im Unternehmen nicht sofort wieder verlöscht, und die restlichen Mitarbeiter mit den neuen Themen mitkommen?

Martin Wulle: Ja, wir richten uns da wirklich an alle Mitarbeiter und bieten sowohl Basisinformationen als auch fachspezifisches, fortgeschrittenes Know-How für einzelne Bereiche. Gestartet sind wir mit dem Digital Campus 2013 und bauen heuer das Angebot noch einmal deutlich aus.

MIR: Legen Sie auch beim Recruiting besonderen Wert auf digitale Vorkenntnisse?

Martin Wulle: Wir suchen natürlich auch extern ganz gezielt nach Leuten mit spezifischem Know-how, z.B. im E-Commerce und UX-Design, oder SEO-Experten und Content-Experten aus Medienhäusern. Für Hochschulabsolventen haben wir ein eigenes Digital-Trainee-Programm aufgesetzt und auch unser Cross-Company-Trainee-Programm gemeinsam mit Tchibo hat digitale Schwerpunkte, wie den E-Commerce. Aber alle diese Experten nützen wenig, wenn sie keine Anknüpfungspunkte zu den bestehenden Mitarbeitern haben und deshalb legen wir so viel Wert darauf, wirklich alle für das Thema fit zu machen.

MIR: Know-how ist das eine, aber die digitale Welt ist ja auch deutlich schneller. Wie bekommen Sie Tempo und Dynamik in die internen und externen Abläufe bei Beiersdorf?

Martin Wulle: Das ist für ein Großunternehmen in der Tat schwer, aber wir versuchen das vermehrt über die Formierung kleiner, agiler Projektteams hinzubekommen, die möglichst eigenverantwortlich arbeiten und entscheiden können. Mit bestehenden Prozessen wird man nicht schneller. Wir hinterfragen solche Prozesse, setzen sie außer Kraft und schaffen ein bewusstes Vakuum, das Raum gibt für Entrepreneurship. Bei einem Unternehmen, das jahrzehntelang außerordentlich erfolgreich war, ist der Wille zur Veränderungen aber nicht automatisch gegeben. Da müssen wir uns einiges einfallen lassen und teilweise auch hart kämpfen.

MIR: Die Digitalisierung erfordert neue Technologien, die man beherrschen muss. Bleibt da das klassische Marketingdenken auf der Strecke und  wird obsolet?

Martin Wulle: Nein. Marken sind und bleiben ein wesentlicher Anker in der heutigen Informationsflut. Ich muss einfach wissen, wofür meine Marke steht, wie sie positioniert ist, und was ihre Benefits und Versprechen sind. Nur eine Marke, die zuverlässige, konstante Qualität liefert, wird auch weiterhin relevant sein. Diese Dinge werden oft durch zu viel Technologie weggewischt. Jeder  heuert  Influencer oder produziert irgendwelchen Content,  um auf die digitalen Buzzwords aufzuspringen. Oft entstehen dabei Dinge, die keinen Bezug mehr zur Marke oder keine Relevanz für den Verbraucher haben.

Das unreflektierte Kopieren von Aktionen ohne tiefergehende Markenanalysen bringt nichts.

MIR: Christof Baron, der langjährige Chef der Group M Agentur Mindshare hat vor kurzem mit dem Begriff der „digitalen Besoffenheit“ die vielen Enttäuschungen im digitalen Marketing beschrieben. Werden die Chancen  der digitalen Transformation überschätzt?

Martin Wulle:  Fakt ist, dass sich das Mediennutzungsverhalten der Verbraucher bereits heute massiv verändert hat und Social Media Bestandteil des Alltags sind. Dass Unternehmen ihre Kommunikationsstrategie hier entsprechend anpassen, halte ich nicht für „digitale Besoffenheit“ sondern schlicht für notwendig. Wenn der digitale Transformationsprozess aber zum reinen „Buzzword Bingo“ mutiert, wie es besonders auf Veranstaltungen und Konferenzen geradezu zelebriert wird, sind Enttäuschungen unvermeidlich.  Das unreflektierte Kopieren von Aktionen ohne tiefergehende Markenanalysen bringt nichts. Hier verdient so mancher Anbieter viel Geld an oft noch ahnungslosen Kunden.

MIR: Der unangefochtene Star in Ihrem Markenportfolio ist ja Nivea. Könnten Sie uns am Beispiel von Nivea erklären, wie Sie die digitale Transformation im Einklang mit der Marke und den Kundenbedürfnissen sicherstellen?

Martin Wulle: In Europa ist Nivea seit Jahren eine „Most trusted Brand“ und das soll natürlich so bleiben. Wir haben deshalb unsere Markenstrategie in eine eigene Digitalstrategie übersetzt und überlegt, was sie für eine heute übliche Consumer Journey bedeutet. Wir versuchen zu verstehen, welche Touchpoints welche Rolle spielen. Zum Beispiel bei den Informationsprozessen analysieren wir die Rolle von Reviews bei Onlineanbietern,  die Relevanz von Blogs, von Search oder von einzelnen Social Media Plattformen.

MIR: Wie wirken sich diese Analysen dann auf die Kundenansprache aus?

Martin Wulle: Wir investieren deutlich stärker auf Facebook und YouTube, aber genauso  haben wir beispielsweise unsere website in Europa gerade komplett neu lanciert. Dabei haben wir relevanten content und commerce vereint und verbunden. Wir versuchen Kundenbindungsmaßnahmen zu entwickeln, um näher am Kunden zu sein. Wir sind aber nach wie vor am Lernen, um besser abschätzen zu können, wieviel wir in die einzelnen Touchpoints investieren sollen.

MIR: Vorhin haben Sie kurz das Thema der Influencer angesprochen. Welche Rolle spielen solche Meinungsmacher in sozialen Medien bei Nivea?

Martin Wulle: Wir arbeiten in einzelnen Ländern mit verschiedenen Influencern auf unterschiedliche Art und Weise zusammen. Auch hier probieren wir verschieden Modelle der Zusammenarbeit aus. Am wichtigsten ist uns jedenfalls, dass man Influencer wählt, die zur Marke passen. Das hat Vorrang gegenüber der Reichweite.

MIR: Und für andere Marken entwickeln sie andere digitale Kontaktpunkte, die zu deren Markenwelt passen?

Martin Wulle: Unsere Marken sind alle sehr unterschiedlich positioniert. Eucerin wird zum Beispiel nur in Apotheken verkauft und hier ist Beratung natürlich ganz wichtig. Das greifen wir auch in der digitalen Welt auf. Wir haben z.B. einen Video Hautberater auf unserer Website gelauncht. Zusätzlich gibt es eine neue App, den Atopi Coach, der Kunden mit Neurodermitis hilft, ein Tagebuch über die jeweiligen Symptome zu verfassen, um die Behandlungsmöglichkeiten zu verbessern. … um nur ein paar der innovativeren Dinge zu nennen, die wir hier machen.

MIR:  Abschließend würde ich noch einmal gern zum Thema E-Commerce kommen. Beiersdorf ist ja traditionell Produzent und kein Händler. Soll sich das in Zukunft ändern? Setzen Sie verstärkt auf eigenen Online-Vertrieb?

Martin Wulle: Nein. Wir haben zwar in Deutschland und Österreich einen eigenen Online-Vertrieb für Nivea, aber unsere Handelspartner bleiben nach wie vor extrem wichtig. Viele unserer Handelspartner arbeiten an eigenen E-Commerce Lösungen und werden zu Multi-Channel-Anbietern. Dabei unterstützen wir sie in den für uns relevanten Kategorien. Wir arbeiten auch mit reinen Online-Retailern und suchen gezielt neue Online-Marktplätze.  Zum Beispiel  China und Südkorea sind  beim E-Commerce ganz vorn in der Entwicklung. Dass Nivea überall erhältlich ist, gehört zum Kern der Marke. Den eigenen Vertrieb sehen wir primär als Möglichkeit, direkt von Kunden zu lernen, und aus erster Hand zu erfahren, was  ankommt und gebraucht wird.

MIR: Vielen Dank, dass Sie uns mitgenommen haben auf diese Reise in die digitale Welt von Beiersdorf. Wir wünschen Ihnen auch weiterhin viel Erfolg beim Aufbau Ihres digitalen Ökosystems für Nivea und alle anderen Marken.

Autor/en

Das Interview wurde im November 2016 von Prof. Werner Reinartz und Christine Kittinger-Rosanelli geführt.