Hilken, T., Heller, J., & Mahr, D. (2023). Closing the Customer Imagination Gap with Augmented and Virtual Reality. NIM Marketing Intelligence Review, 15(2) 30-35. https://doi.org/10.2478/nimmir-2023-0014
Mit Augmented und Virtual Reality: Flügel für die Vorstellungskraft der Konsumenten
Kunden kaufen nur zögerlich, wenn sie sich die Vorteile eines Produkts nicht vorstellen können
Jeder Konsument weiß, dass es gar nicht so einfach ist, sich vorzustellen, wie ein Produkt tatsächlich funktioniert oder welche Vorteile ein in Anspruch genommener Service tatsächlich bietet. Die Schwierigkeit, sich etwas vorzustellen, bezeichnet man im Marketing als „Imagination Gap“. Diese mangelnde Vorstellungskraft kann dazu führen, dass Käufe aufgeschoben werden oder gar nicht zustande kommen. Obwohl es heute einen Überfluss an Medien gibt, stören Imagination Gaps weiterhin Kundenerlebnisse in verschiedenen Branchen, und Unternehmen entgehen beträchtliche Einnahmen. Am stärksten betroffen ist wohl der Onlinehandel, wo Kunden ihre virtuellen Einkaufswagen oft verlassen, weil sie sich dann doch nicht so sicher sind, ob beispielsweise ein Möbelstück in ihre Wohnung passt. Imagination Gaps treten aber auch in anderen Kontexten auf, auch zum Nachteil der Konsumenten. Denken wir zum Beispiel an die Altersvorsorge: Viele junge Menschen schieben Investitionen auf, weil es ihnen schwerfällt, sich vorzustellen, dass ihr zukünftiges Ich besser dran wäre, wenn sie bereits in der Gegenwart regelmäßig Geld beiseitelegen würden.
Viele Unternehmen nutzen bereits die erweiterte Realität, damit sich ihre Kunden Produktvorteile besser vorstellen können.
Augmented und Virtual Reality können den Imagination Gap schließen
Um den Imagination Gap zu schließen und der Vorstellungskraft der Konsumenten Flügel zu verleihen, haben sich einige Unternehmen bereits der erweiterten Realität zugewandt, die Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) sowie Mixed Reality (MR) umfasst. AR und VR sind die Hauptvertreter dieser neuen Technologieklasse. Sie haben großes Potenzial, für Unternehmen und Konsumenten einen Mehrwert zu schaffen. Während AR digitale Inhalte in physische Umgebungen projiziert und ein Gefühl von „es ist hier“ erzeugt, versetzt VR die Nutzer in digitale Umgebungen und vermittelt ihnen das Gefühl von „ich bin dort“. Die Abbildungen 1 und 2 fassen zusammen, wie AR- und VRAnwendungen funktionieren, liefern Beispiele dafür, wie der Imagination Gap geschlossen werden kann, und geben einen Ausblick auf künftige Entwicklungen.

AR scheint besser geeignet, die Kaufabsicht für ein Produkt zu erhöhen, während VR mehr die allgemeine Einstellung zur Marke verbessert.

Mit AR das Digitale ins Physische projizieren
„Moment mal, ist das echt?“ ist eine häufige Reaktion, wenn Kunden zum ersten Mal AR nutzen, um Produkte wie IKEA-Möbel, Ray-Ban-Sonnenbrillen, Make-up von L’Oreal oder die Speisen und Getränke auf der Speisekarte der niederländischen Kaffeehauskette Coffeelovers virtuell zu betrachten (siehe Abb. 1). AR schafft ein einzigartiges Erlebnis, indem es digitale Inhalte auf magische Weise in der physischen Umgebung erscheinen lässt, in den meisten Fällen mithilfe einer Smartphone-Kamera. Der Misserfolg von Google Glass wirft immer noch einen langen Schatten auf tragbare AR-Headsets, wobei die schrittweise Markteinführung der Apple Vision Pro dies bald wieder ändern könnte. Dennoch zeigt die aktuelle Forschung bemerkenswert durchgängig, dass AR traditionellen Medien wie Bildern und Videos darin überlegen ist, produktbezogene Vorstellungslücken zu schließen. Die bessere Vorstellungskraft gibt den Kunden Selbstvertrauen und die nötige Sicherheit, um einen Kauf abzuschließen. Zusätzlich zur Unterstützung beim Verkauf von Produkten hilft AR auch dabei, Imagination-Gaps beim Navigieren durch komplexe physische Räume wie den London Gatwick Airport zu schließen oder sich an wichtige historische Ereignisse zu erinnern. Zum Beispiel können Besucher im Illinois Holocaust Museum mit KI-gesteuerten AR-Hologrammen von Holocaust-Überlebenden sprechen, die für kommende Generationen „weiterleben“ und ihre Geschichte erzählen können, selbst wenn die echten Zeitzeugen bereits verstorben sind.
Mit VR das Physische ins Digitale übertragen
„Wird mir dabei übel?“ war anfangs eine häufige Sorge von VRNeulingen. Glücklicherweise sind die Zeiten vorbei, in denen Kunden ihre Smartphones in eine Pappschachtel stecken mussten, um VR zu erleben, nur um dann von Schwindelgefühlen erfasst zu werden. Moderne und erschwingliche Headsets wie die der Oculus-Quest-Reihe lassen Konsumenten in einen anderen Raum (und eine andere Zeit) eintauchen und vermitteln ihnen ein einzigartiges Gefühl der „Ich bin dort“-Präsenz. Auf diese Weise eröffnet VR nicht nur die Möglichkeit, bestehende Kundenerlebnisse zu verbessern, sondern auch die Möglichkeit, neue werthaltige Angebote zu entwickeln. So bietet beispielsweise das niederländische Start-up Psylaris VR-Erfahrungen an, die Patienten in der psychiatrischen Versorgung bei der Verarbeitung von Traumata helfen sollen, wodurch der subjektive Leidensdruck deutlich reduziert werden kann. VR wird auch in der universitären Ausbildung eingesetzt, da damit Lernerfahrungen verbessert werden können und es für Studierende leichter wird, wichtige Soft Skills zu üben. An der Universität Maastricht gehört beispielsweise das „Üben vor dem Spiegel“ bald der Vergangenheit an, denn die Studierenden können an ihren Präsentationsfähigkeiten in VR feilen, indem sie in einen Hörsaal mit einem scheinbar realen Publikum eintauchen, das auf ihre Präsentation reagiert (siehe Abb. 2).
Erkenntnisse aus der Forschung und Leitlinien für Manager
Unsere Ausführungen haben skizziert, wie AR und VR einen Mehrwert für Unternehmen und Kunden schaffen können. Die effektive Nutzung dieser Technologien erfordert jedoch eine klare Strategie. In unserer Studie haben wir wichtige strategische Überlegungen beleuchtet und können Managern die folgenden Empfehlungen mitgeben:
> Prüfen Sie, ob sich der Einsatz erweiterter Realität rechnet
In einer Reihe von Studien, die wir gemeinsam mit der Coffeelovers-Kette durchgeführt haben, konnten wir zeigen, dass der Einsatz von AR-Speisekarten zu Umsatzsteigerungen führte und den Verkauf von ganzen Menüs, also Kombiangeboten aus Speisen und Getränken, ankurbelte. Wenn die AR-Menüs für Werbung im Laden eingesetzt wurden, war die Kaufwahrscheinlichkeit für ein ganzes Menü siebenmal höher als ohne AR-Einsatz. Der AR-Einsatz für Werbung außerhalb des Ladens konnte zusätzliche Kunden in den Laden locken und führte zu einer Konversionsrate von 26 % und einer höheren Wahrscheinlichkeit für den Kauf eines Produktbündels.
> AR oder VR? Wählen Sie den richtigen Technologietyp für Ihre Zielsetzungen
Welche Technologien sich am besten eignen, um bestimmte Marketingziele zu erreichen, ist situationsabhängig. In einer kürzlich durchgeführten Studie haben wir uns auf Anwendungen im Experiential Retailing konzentriert, bei dem Händler physische Produkte verkaufen, indem sie besonders auf Design und Atmosphäre des Ladens setzen. Wir haben Hinweise gefunden, dass AR besser geeignet ist, die Kaufabsicht für ein Produkt zu erhöhen, während VR mehr die allgemeine Einstellung zur Marke verbessert. Wir führen dies darauf zurück, dass die Technologien unterschiedliche Vorstellungsdimensionen anregen: Produktbezogene Vorstellungen wie z. B. bestimmte Produkteigenschaften kann man besser mit AR auslösen, während sich kontextbezogene Vorstellungen wie z. B. das Ambiente in einem Laden besser mit VR stimulieren lassen.
Es ist wichtig, den Einsatz von AR und VR auf die Kundenbedürfnisse in bestimmten Phasen der Customer Journey abzustimmen.
> Nutzen Sie AR und VR in verschiedenen Phasen der Customer Journey
Es ist auch wichtig, den Einsatz von AR und VR auf die Kundenbedürfnisse in bestimmten Phasen der Customer Journey abzustimmen. Auf dem Weg von Bewusstsein und Interesse zu einer Entscheidung und Handlung entstehen ganz unterschiedliche Imagination Gaps, die mit AR und/oder VR überwunden werden können. Entlang der Customer Journey gibt es Einsatzbereiche für beide Technologien. Bei Online-zu-Offline-Journeys scheint zunächst der Einsatz von AR vorteilhaft, damit sich Kunden leichter entscheiden können, was sie kaufen wollen. VR kann dann das Kauferlebnis im Store bereichern und Kunden dabei unterstützen, sich Konsumsituationen mit den Produkten besser vorzustellen.
> Reagieren Sie auf Bedenken der Kunden in Bezug auf Privatsphäre und Filter
Bei unseren Untersuchungen haben wir festgestellt, dass Kunden neuartige Bedenken gegenüber AR und VR entwickeln. Ihre Sorge gilt beispielsweise den zusätzlichen Möglichkeiten, mittels AR und VR potenziell sensible, kontextbezogene Daten zu sammeln, z. B. darüber, wie Konsumenten ihre Wohnung mit AR dekorieren würden oder wie sie sich in VR-Räumen bewegen und interagieren. Auch Angebote wie AR-Gesichtsfilter, die ein falsches Realitätsgefühl und damit eine verzerrte Selbstwahrnehmung erzeugen können, bereiten Sorgen. Richtlinien für die ethische Nutzung von AR und VR sind noch kaum vorhanden. Unternehmen haben daher die Chance, mit gutem Beispiel voranzugehen und verantwortungsvolle Geschäftspraktiken zu entwickeln, wie beispielsweise die Plattform Pinterest, die auf AR-Filter zur Hautglättung bewusst verzichtet, um körperdysmorphe Störungen zu bekämpfen.
Und die Entwicklung geht weiter: Neuro-Enhanced Reality
Jenseits von AR und VR zeichnet sich bereits die nächste Spitzentechnologie ab. Brain-Computer-Interfaces (BCI) werden zunehmend in Devices wie z. B. Kopfhörer von Neurable oder Baseballmützen von NextMind integriert – sie können die Gehirnaktivität in Steuerungsimpulse für ein digitales Gerät umwandeln. Dies ebnet den Weg für eine Neuro-Enhanced Reality (NeR), die ein neuartiges Erleben von AR und VR ermöglicht – nämlich ohne die physische Steuerung eines Geräts. Während eines VR-Einkaufserlebnisses brauchen Kunden beispielsweise einfach nur zu denken, wohin sie als Nächstes gehen wollen oder welche Produkte angezeigt werden sollen. Längerfristig könnte NeR den Imagination Gap sogar ganz beseitigen, und zwar mit BCIs, wie sie z. B. von Neuralink entwickelt werden. Diese Geräte können nicht nur die Hirnaktivität lesen, sondern auch aktiv Hirnregionen durch Implantate stimulieren. Obwohl das alles noch recht futuristisch klingt, sind auch alltägliche Anwendungsszenarien vorstellbar: Zur virtuellen Begutachtung eines möglichen Urlaubsresorts könnten Kunden mit NeR nicht nur vor der Buchung sehen, wie das Hotel oder der Strand aussehen, sondern auch das Essen im Restaurant „riechen“ oder „schmecken“ oder die Meeresbrise auf der Haut „spüren“.
LITERATURHINWEISE
Hilken, T., Heller, J., Keeling, D. I., Chylinski, M., Mahr, D., & de Ruyter, K. (2022). Bridging imagination gaps on the path to purchase with augmented reality: Field and experimental evidence. Journal of Interactive Marketing, 57(2), 356–375.
Hilken, T., Chylinski, M., Keeling, D. I., Heller, J., de Ruyter, K., & Mahr, D. (2022). How to strategically choose or combine augmented and virtual reality for improved online experiential retailing. Psychology & Marketing, 39(3), 495–507.
Hilken, T., Chylinski, M., de Ruyter, K., Heller, J., & Keeling, D. I. (2022). Exploring the frontiers in realityenhanced service communication: from augmented and virtual reality to neuro-enhanced reality. Journal of Service Management, 33(4–5), 657–674.